Vom Sammeln

Das Sammeln von Nahrungsmitteln war in den Gentilordnungen der Urzeit neben dem Jagen die Grundlage des Überlebens. In überlieferten Geschichtsbildern von „Jägern und Sammlern“ gingen Historiker u. Philosophen davon aus, dass die erste (ursprüngliche) Arbeitsteilung die zwischen Mann und Frau war. Männern wird das Jagen zugeschrieben, während Frauen sich tagsüber mit dem Sammeln von allerlei Verwertbarem beschäftigten, bestenfalls mit dem von Essbarem. Ob es wirklich so war, bleibt der historischen u. archäologischen Forschung vorbehalten zu ergründen. Im Unterschied zum heutigen Sammeln, wurde das gentile Sammelgut zeitnah wieder verbraucht, da zum Einen in Ermangelung von Konservierungsmöglichkeiten die Aufbewahrung verderblicher Nahrungsmittel, Beeren, Pilze, Wurzeln, Weichtiere usw. nicht zu realisieren war.

Photographica

Jäger und Sammler der letzten Eiszeit am Rastplatz (aus: Weltall, Erde, Mensch, Leipzig, 1960, Farbtafel XIV).

Zum Anderen wurden Steine, Knochen, besondere Gräser und Gerten zu ersten Werkzeugen verarbeitet, von denen es in einer Gesellschaft fernab vom Überfluss nicht genug geben konnte.
Etymolgisch lässt sich das Lexem bis in den indorgermanischen Sprachraum verfolgen. Nach mittelhochdeutsch „samenen“, althochdeutsch „sameno“ (anhäufen, vereinigen), finden wir im Germanischen das Adjektiv „sama“ (von gleicher Beschaffenheit), was auf das indogermanische „samos“, ein Adjektiv zum „sem“ (eins, zusammen, samt), dass in seiner Bedeutung in etwa ‚gleich, derselbe‘ o.ä.heißen mag. Als Suffix -sam bildet es in Wörtern wie gleichsam, bedeutsam, einsam ein Semem, dass auf ‚Gleichartigkeit/ von gleicher Beschaffenheit‘ hinweist.
Heute werden Gegenstände aller Art des Bewahrens wegen gesammelt, alles, wovon es mehr als nur ein Ding gibt. Grundsätzliche Eigenschaften müssen übereinstimmen, spezifische Besonderheiten der Gegenstände machen sie des Sammelns wert.
Bezweifelt werden darf, dass die männlichen Artgenossen der frühzeitlichen Sippenverbände einzig zur Jagd unterwegs waren. Wie wäre es sonst zu erklären, dass das hobbymäßige Sammeln der Neuzeit wahrscheinlich (gesicherte Zahlen liegen nicht vor) überwiegend von Männern praktiziert wird. Gemeint ist nicht das Aufhäufen von Materialien aller Art, wie es sich im modernen Messietum wieder findet, sondern das systematische Sammeln im engeren Sinne, Briefmarken, Waffen, Autos, Abziehbilder. Skurile Arten erheischen die Aufmerksamkeit der Mitmenschen. Eine absonderliche Form kam mir jüngst zu Ohren: Eine junge Frau sammelte Anfang der 80er Jahre Waschlappen. „Bild“ wusste vor einigen Jahren von einem 71jährigen Herren zu berichten, der Herzschrittmacher sammelte, obwohl sein Herz fehlerlos funktionierte. Nun ja – „Bild“?!?!
87% der Deutschen sollen sich mit Dingen umgeben, die sie eigentlich nicht benötigen. Nur wer entscheidet, was wir zum Leben brauchen, was nicht? Da so ziemlich alles zum Sammeln taugt, stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Grund solchen Handelns. Schon als Kinder wurden wir von den Altvorderen animiert, Dinge zu sammeln, Briefmarken, Comics, Lackbilder. Wer der heute über 50jährigen erinnert sich nicht gern an die Fußballbilder einer (West-)Schokoladenmarke anlässlich der WM von 1974. Die Kids in West und besonders Ost gierten geradezu danach.

Heute, wo es alles im Überfluss gibt, wo alles dank Internet in kürzester Zeit zur Verfügung steht, wird es schwer, für aktuelle Gegenstände eine Sammelleidenschaft zu entwickeln. Die Produktreihen der verschiedensten Waren erneuern sich halbjährlich und ganz automatisch kullern in den Schubladen, Schränken und Kellerräumen deutscher Haushalte Waren des täglichen Bedarf herum, z.T. längst aussortiert, z.T. nicht mehr benutzbar. Schauen Sie nach, ob Sie Ihre alten Mobiltelefone entsorgt haben, oder ob nicht doch im untersten Fach der kaum benutzten Kommode des Wintergartens so Stücker 6-8 der archaischen Drahtlossysteme schlummern, bereit zur Wiederentdeckung durch Ihre Nachfahren nach Ihrem unausweichlichen Ableben. Schauen Sie nach, ob sich nicht der eine oder andere Staubsauger in den selten besuchten Nischen von Haus, Hof und Garten versteckt hat.

Archaische Drahtlossysteme schlummern in den Schubladen.

Der Großvater hob alle Dienstkalender seines langjährigen Berufslebens in einer alten Kommode auf dem Dachboden auf. Nur durch Zufall entdeckten die Hinterbliebenen nach seinem Tod darunter seine Kriegstagebücher aus dem 2. Weltkrieg – historische Primärquellen deutscher Alltagsgeschichte.
Die wiederum werden gesammelt von Museen, aber auch manchem Hobby-Historiker, womit wir bei einer zweiten bedeutsamen Eigenheit des Sammelns angekommen sind. Sammeln als Hobby.
Heutzutage dient die Arbeit in den seltensten Fällen als direkter Broterwerb. Normalerweise ist der durchschnittliche Westeuropäer als Angestellter tätig in einem Büro, in einem Einzelhandels- oder Dienstleistungsunternehmen, seltener in einem Produktionsbetrieb oder bei der Gewinnung von natürlichen Ressourcen. Viele Werkstoffe, Produkte, Gegenstände, die noch vor 150 Jahren der Natur abgerungen wurden, entstehen heute synthetisch. Naturstein beispielsweise hat als Baustoff ausgedient, Steinbrüche werden vielfach stillgelegt oder die Produktion auf ein Minimum herunter gefahren. Der aktuell meist verbaute Werkstoff ist Beton, im übrigen der größte Klimakiller. Der CO2-Jahresausstoß aller Passagierflugzeuge zusammen genommen ist nicht halb so groß, wie das bei der Betonherstellung entstehende Treibhausgas. Die Herstellung einer Tonne des nach Wasser am meisten verbrauchten Rohstoffes verursacht rund 100 Kilogramm CO2-Müll. (Vgl.: Turner, Sebastian, Klimakiller Beton, N24 Online vom 21.07.2011) Viele Materialien, die noch vor 150 Jahren aus Holz, Wolle, Pflanzenfasern, Metall erzeugt wurden, sind in unserer Zeit durch Stoffkomposite auf Erdölbasis ersetzt worden. Schauen Sie sich den Polyester-Anteil ihrer Kleidung an oder drücken sie testweise auf den vorderen Kotflügel (PVC) ihres Neuwagens.
Den Rest der zum Leben notwendigen oder für die Aufrechterhaltung unseres alltäglichen Luxus‘ notwendigen Waren erzeugen wir in industrieller Massenfertigung, zumeist in der dritten Welt. Das Ergebnis ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung in totaler Entfremdung einer Beschäftigung nachgeht, um im Austausch gegen Geld ihre Arbeitskraft zu verkaufen.(s. auch, Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Bd.40 S.465 ff.) Anders ausgedrückt: „Das Schlimme ist ja nicht, zu viel zu arbeiten, sondern sich bei der Arbeit zu langweilen. Das führt zu Stress und zu einer hohen Belastung. Das Hobby kann hier einen Ausgleich schaffen“, meint ein Psychologe Dr. Basse in Bild vom 25.01.2012. (Das kann nur Bild, die Lösung des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Gesellschaft mit Hilfe eines schönen Hobbys.)
Das Betreiben eines Hobbys ist als entspannender Ausgleich zum tristen Arbeitsalltag nicht hoch genug zu bewerten. Der Begriff geht auf das englische hobby horse, zu deutsch Steckenpferd, zurück. Das Steckenpferd steht als Symbol für Spielzeug und Freizeit. Menschen, die einem Hobby nachgehen, die ein Steckenpferd besitzen und dieses pflegen, gehen freiwillig, ohne von außen getrieben zu werden, sehr intensiv bestimmter Beschäftigungen nach, sind bereit, Energie, Zeit und Geld dafür aufzuwenden. Neben sonstigen nützlichen therapeutischen Nebenwirkungen können Grenzen zwischen Beruf und Hobby, aber auch zwischen Hobby und Sucht verschwimmen. Hoch angesehen und beglückwünscht von seiner Sozialisation wird derjenige, der sein Hobby zum Beruf machen konnte. Zu untersuchen wäre, inwieweit in einem solchen Fall die Entfremdung das Individuum von einer ehemals freiwillig ausgeführten Tätigkeit entkoppelt und diese zur Belastung werden lässt. Das nur am Rande.
Gerade die Sammelleidenschaft als Steckenpferd kann zur Sucht werden. Die Grenzen verwischen sich mehr und mehr, Kontrollverlust, Verlust sozialer Bindungen, das unabweisbare Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem sich der Rest des Lebens unterordnet, also alles was zu einer Sucht gehört, kann sich ebenso in einer pathologischen Sammelwut entäußern.
Normal ist es eine bestimmte Begebenheit, ein Erlebnis, eine Situation, die die Sammelleidenschaft auslöst. Ein Kind bekommt von einem lieben Verwandten oder Freund eine bunte Postkarte mit einer ungewöhnlichen Briefmarke geschickt. Registriert das junge Individuum das Besondere, ist das Hobby initialisiert. Das Kind beginnt nach weiteren Postkarten oder Briefmarken oder beidem Ausschau zu halten. Nächste Angehörige beobachten das neue Interesse des Schützlings. Besonders Großmütter sind nach meiner Kindheitserfahrung prädestiniert, ordentlich mit zu sammeln. Andere Verwandte freuen sich ob der Tatsache, um ein Geschenk zu Weihnachten, Ostern, an Geburtstagen und so fort nicht mehr verlegen sein zu müssen. Läuft die Pubertät normal ab, dürften sich solche Freizeitbeschäftigungen verwachsen. Während die Großmutter immer noch brav und akribisch das Sondermarkenabo bezahlt, geht der Jugendliche wichtigeren Beschäftigungen nach, in der Regel, sich auf das andere Geschlecht zu orientieren. Doch manchmal noch ist die Briefmarkensammlung zu etwas Nutze, wenn ein Junge sich für ein Mädchen interessant machen will. „Hier werden unterschiedliche Botschaften gleichzeitig vermittelt. Zum einen der scheinbar harmlose Vorwand, das junge Mädchen zu sich nach Hause (in den Bau) zu locken, zum anderen über die Briefmarkensammlung,… den eigenen Wert (Selbstwert ) zu signalisieren.“ (zitiert nach: Heil, Oliver, Sammelfieber, Sammellust, Sammeltrieb, www.neon.de (Stern) vom 30.11.2001) Auch wenn die kleinen bunten Bildchen das Mädchen schnell ermüden dürften, wird hier dennoch an das Sicherheitsbedürfnis des weiblichen Geschlechts signalisiert: Ich bin in der Lage vermeintlich oder tatsächlich Wertvolles aufzuhäufen, also bin ich auch in der Lage, Lebensnotwendiges zu sammeln, zu ordnen, vor Verlust zu schützen und einer Bestimmung zuzuführen. Die Vermittlung von Gefühlen der Sicherheit und des Gewinns deuten immerhin auf den ursprünglichen Sinn des Sammelns.
In der „heißesten“ Phase der männlichen der Pubertät – für die weibliche Seite fehlt dem Autor naturgemäß das Einschätzungsvermögen – die von erster erfüllter Liebe, erstem Geschlechtsverkehr, dem allmählichen Lernen, Lust zu genießen, gekrönt wird, schwächt sich der Drang des Hortens von Dingen vorübergehend ab. (Diese These beruht lediglich auf empirischen Beobachtungen, gesicherte soziologische Studien wurden nicht berücksichtigt.)
Ganz bewusst sprechen wir von Abschwächung, denn ganz zum Erliegen kommt die Sammelei möglicherweise nicht. Auch ändert sich der Gegenstand. Während Postkarten, Bierdeckel, Briefmarken oder Fußballbilder in den Katakomben des alten Kinderzimmers ein klägliches Dasein fristen, wächst die Plattensammlung, das Regal mit Musikkassetten musste wieder vergrößert werden und an der Wand ist längst kein Platz mehr für das neueste AC/DC-Poster. Zumindest bei Platten und Kassetten stellt sich eine neue Erkenntnis ein. Es ist nicht nur „cool“, soviel wie möglich davon zu besitzen. Man kann damit auch etwas machen. Man kann Musik hören, nämlich genau jene Musik, die die Altvorderen ablehnen und die Mädchen nach außen verschmähen, wenngleich sie den Typen heimlich anhimmeln, der sich mehr aus harten Gitarrenklängen macht, als aus ihren Mädchenträumen. Irgendwann kommen sie ohnehin zusammen, das ist der Lauf der Natur. Der Heranwachsende will sich abgrenzen von jenen, die nicht dazu gehören und er findet über die akustische Botschaft Gleichgesinnte, um gemeinsam „abzuhängen“ beim Hören brachialer Klangwände. (So war es zumindest in vordigitaler Zeit.) Die Zuordnung einer sinngebenden Tätigkeit zum Sammelobjekt, die über das bloße Betrachten und das Sich-Ergötzen hinaus geht, ist eine Erkenntnis, die bewusst oder unbewusst Sammeln positiv konnotiert.

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