Balgenkameras

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Wenn man sich mit traditionellen Fotoapparaten beschäftigt, stößt man immer wieder auf Kameras, die interessant oder preiswert genug sind, sie anzuschaffen. Man hantiert damit herum, knipst mal einen Film ab oder muss feststellen, dass sie nicht in die Sammlung passen. Von manchen Exponaten trennt man sich, andere wandern von der Vitrine in den Unterschrank, weil man sie nicht hergeben mag, der Platz im Glasschrank jedoch wichtigeren Modellen vorbehalten bleibt. An der Stelle seien einige der zumeist älteren Damen besprochen, die es bis jetzt nicht geschafft haben, ein eigenständiges Sammelgebiet zu werden.
Balgenkameras haben den Knipser schon als Kind fasziniert. Man drückte auf den Knopf auf der Oberseite einer flachen Schachtel, und schon schoss das Objektiv nach vorn, gehalten von einem komplizierten Gestänge und mit einem Balgen verbunden, dem einer Ziehharmonica nicht unähnlich. Derlei Apparate waren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts beim gemeinen Volk beliebt, da oft nicht teuer und einfach in der Handhabung. Einige waren technisch umfassender ausgestattet. So besaß die Certo Dollina einen Entfernungsmesser als Zubehör, der bei der Nachfolgerin Super Dollina fest ins Gehäuse integriert wurde. Agfa hatte seine Isolette ständig weiter entwickelt und Kodaks Retina ist bis heute ein Wunderwerk präziser Feinmechanik. Manche Apparate, wie z.B. Zeiss Ikons Nettar, erzielen in der Bucht dreistellige Verkaufspreise. Fotografiert man mit einem solchen Gerät in der Öffentlichkeit, hat man schnell die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich gezogen.

Agfa Isorette, Bj. 1937, die Ur-Isolette, erfreute sich beim Volksgenossen großer Beliebtheit. Einfach in der Handhabung, für damalige Verhältnisse klein und leicht, passte die „Soldatenkamera“ für 38 Reichsmark zusammengeklappt in jede Uniformmanteltasche. Drei Belichtungszeiten, 6 Blendenstufen v. 6,3-32 sowie ein Objektivring zum Einstellen der Entfernung waren die Parameter, mit denen sich der Lanzer auseinander setzen musste. Mittels kleiner Klappbleche im Gehäuseinneren konnte der Nutzer zwischen den Formaten 4,5×6 und 6×6 wechseln. Ein Hebelchen am unteren Rand der Tolit-Kappe sorgte für die adäquate Korrektur im Sucher. Wie viele Greueltaten des 2. WK mit dieser Linse der Nachwelt überliefert wurden, ist nicht ermittelt worden.
Mittelformat ist hinsichtlich Auflösung und Dynamik ein eigenes Ding. Die Isorette lieferte ordentliche Fotos von Berliner Sehenswürdigkeiten, die der Großvater als damals 19-jähriger vielleicht ebenso genipst hätte.


Die Belfoca von Welta aus dem sächsischen Freital ist alles andere als eine moderne, zeitgemäße Kamera. Die Technologie mutet vorkriegsmäßig an. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass es nach den Entbehrungen des Krieges darum ging, Bedürfnisse nach Konsumgütern zu befriedigen. In der durch Reparationen u. Planwirtschaft gebeutelten DDR wurde dabei oft auf Know How aus Vorkriegszeiten zurück gegriffen. Das Modell Belfoca I, mit 105mm Bonotar-Objektiv, Tempor-Verschluss 1-250stel Sekunde, lag ab 1952 in den Läden. Mittels einer Blechmaske, die längst verloren gegangen, konnte zwischen den Formaten 6×6 u. 6×9 gewählt werden. Im Gegensatz zum Junior-Verschluss muss der Tempor erst aufgezogen werden.

Eine Doppelbelichtungssperre sucht man auch bei diesem Modell vergebens (siehe Bild 6). Ein optischer Sucher ist ebenso wenig vorhanden. Durch das Blechrähmchen auf der Oberseite des Bodys wird das Motiv wage angepeilt. 1958 erschien eine abgespeckte Junior-Variante (Belfoca II) mit einfachem Verschluss mit drei Belichtungszeiten. Ein Jahr später ging es mit der Qualität noch eine Stufe runter – die Belfoca III besaß eine Lichstärke von 6,5. So war sie, die DDR.


Etwas besser war es um die Ercona von Zeiss Ikon (Ost) bestellt. Der Dresdner Teilbetrieb der Zeiss Ikon AG, einem Konzern mit Standorten in Dresden, Stuttgard und Berlin, hatte sich infolge der Querelen um Volksentscheid, Enteignung und Reparationen verselbständigt. Die alte Konzernleitung hatte ihren Stammsitz in Stuttgard aufgeschlagen. Die Dresdner Betriebe sollten schon bald im Pentacon-Kombinat aufgehen.
Neben der sehr bedeutsamen Spiegel-Contax gab es immer noch das Butter- und Brotgeschäft, die Kamera für den kleinen Mann zu bauen.

Die erste Ercona erschien 1950 und wurde zwei Jahre später von der Zweiformat-Ercona abgelöst mit der es möglich war, zwischen den Formaten 6×6 und 6×9 zu wählen. Das Modell erhielt eine Doppelbelichtungssperre. Erst wenn man den Film weit genug gedreht hatte, wurde der Verschlussknopf wieder frei gegeben. Drei Belichtungszeiten, 25-, 50- und 100stel muten zwar recht bescheiden an, aber Fotoapparate jener Zeit waren für die ganze Familie gedacht, bei Ausflügen oder im Urlaub bei schönem Wetter Sehenswürdigkeiten, Landschaften und die eigenen Nachkommen auf Zelluloid zu bannen, was letztlich prima funktionierte.


Bereits seit 1921 hatte sich das amerikanische Unternehmen Kodak in Deutschland fest gesetzt und das erste deutsch-amerikanische Joint Venture nach dem 1. Weltkrieg gegründet (Herstellung von Filmmaterialien). Dass die bis weit in die 90er Jahre alles beherrschende Einwegfilmpatrone eine Schöpfung Kodaks ist, sei am Rande erwähnt.
1927 verbündeten sich die Amerikaner mit August Nagel in Stuttgart, einem Konstrukteur und Erfinder der Ur-Contessa. Nagel, der sich mit dem Dresdner Zeiss Ikon Konzern überworfen hatte, in dem seine erste Firma nach einer Mammut-Fusion mehrerer Hersteller aufgegangen war, hatte weitreichende Ideen, aber wenig Geld. Diese Sorge war er los, nachdem sich Kodak in Stuttgart engagierte. Sein Bruder Paul und er schufen mit der ersten Retina 1934 ein preiswertes Gegengewicht zur inzwischen marktführenden Leica und ihrer schärfsten, nicht minder teuren Konkurrentin Contax.

Kurz darauf 1936 legten die Brüder nach und brachten die Retina II als Messsucherkamera heraus, die bereits ein Jahr später eine Überarbeitung erlebte. Der unzuverlässige Schnellspannhebel wurde gegen ein einfaches Rad ausgetauscht.
Mit 75,-RM kostete die Basisversion (Foto) mit Ektar-Objektiv, einem Vierlinser wie das Tessar oder Leitz‘ Elmar, gerade mal halb so viel wie eine vergleichbare Leica und begründete so den Erfolg der Retinas.
Eine späte Adelung erhielt der Apparat 1953, als er zur Ausrüstung der Mannschaft um Sir Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay gehörte, die die erste erfolgreiche Besteigung des Mount Everest absolvierten. Er gehörte dem Neuseeländer George Lowe (1924-2018), einem versierten Bergsteiger, der die generalstabsmäßig geplante Tour als Fotograf begleitete.


Ab 1954 konnte der Fotoamateur die Kodak Retina 1b erwerben, die 1957 von der IB abgelöst wurde. Man hätte sie auch ‚1c‘ nennen u. bei Sammlern der Zukunft Verwirrungen vermeiden können.
Die 1b macht einen wertigen Eindruck. Der Balgen ist geschützt durch eine massive Verblendung, auf der der Verschluss u. das Schneider-Kreuznach-Objektiv sitzen. Ein Schnellspanner befindet sich an der Unterseite des Gehäuses, ebenso wie die Verriegelung für die klappbare Rückwand. Präzision wurde groß geschrieben. Beim Betätigen von Blende u. Entfernung läuft alles überdurchschnittlich geschmeidig. Hier wackelt u. klappert nichts. Der Zentralverschluss erlaubt Beli-Zeiten zw. 1s bis 1/500s. Interessanterweise sind Blende u. Verschlusszeit miteinander verbunden, was es gestattet, mit festen Belichtungsreihen zu arbeiten. Die Blende kann man durch Abklappen eines kleinen Hebels separat verstellen. So geschmeidig wie sie sich anfühlt, arbeitet die Kamera auch, selbst mit einem schier hoffnungslos 15 Jahre überlagerten Film.


Die Kodak Retina 1B von 1957 ist bis auf den Selenbelichtungsmesser, einem verbesserten Sucher und der damit verbundenen geänderten Kappe völlig baugleich zur Retina 1b. Im digitalen Zeitalter machen Suchmaschinen, E-Mail-Programme, Smart-Phone-Apps keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung, weshalb es am Anfang etwas verwirrend war zu erkennen, dass es sich um ein anderes Modell als das oben gezeigte handelt.
Leider haben Zentralverschlüsse die Angewohnheit zu verkleben, wenn sie lange nicht benutzt werden. Mit „lange“ sind Jahrzehnte gemeint. So taugt die abgebildete Kamera leider nur noch für die Vitrine und wird über kurz oder lang in der großen Bucht ausgesetzt. Auch die oben gezeigte 1b ist bereits die Zweite, da auch bei der zuerst in meinem Besitz befindlichen der Verschluss zuweilen unzuverlässig war. Für Retinas werden heute, im Gegensatz zu ihrer aktiven Zeit, vergleichsweise hohe Preise aufgerufen. Es obliegt dem Jagdinstinkt des Sammlers, bei passender Gelegenheit zuzuschlagen, um vielleicht doch nocht ein fehlerloses Exemplar zu erwischen. Überdies gehört es ohnehin zu den Lieblingsbeschäftigungen des Sammelnden, die Exponate von Zeit zu Zeit aus dem Schrank zu nehmen, damit zu hantieren und die Funktionen zu probieren.